„Die
vermeintliche Nachbesserung, die die Große Koalition kurz vor Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist Ende letzten Jahres noch
schnell durchs Parlament gemogelt hat, hätte natürlich wirklich Abhilfe schaffen können. Tatsächlich jedoch ändert sich an der fatalen
Beschneidung tarifautonomer Rechte nichts. In mancherlei Hinsicht verschlechtert das Gesetz in seiner neuen Form die Situation sogar noch“,
machte dbb Chef Ulrich Silberbach anlässlich der Einreichung der neuerlichen Verfassungsbeschwerde am 13. März 2019 deutlich.
Allein das
intransparente Gesetzgebungsverfahren sei geeignet, den dbb in seinen Rechten zu beschneiden. Das Bundesverfassungsgericht hatte ausdrücklich
auf Transparenz eines demokratischen Verfahrens gesetzt. Sowohl durch das „gehetzte Durchpeitschen“ des Gesetzes in allerkürzester Zeit als
auch durch die nichterfolgte Beteiligung der betroffenen Gewerkschaften und das „Segeln unter falscher Flagge“ seien Öffentlichkeit und die
betroffenen Gewerkschaften gleichsam ausgeschaltet worden, kritisierte Silberbach. „Eine Frage von so hoher Tragweite wie die zwangsweise
Herstellung einer Tarifeinheit sollte nicht in einem Anhang zu einem Gesetz beschlossen werden, das mit diesem Gegenstand nicht das Geringste
zu tun hat. Und die vorgesehene Mini-Korrektur ist überhaupt keine Lösung. Sie hat letztlich nur die Übergangsvorschrift aus Karlsruhe mit
Verschlechterungen fortgeschrieben. Dazu gehört, dass die vom Gericht in Auftrag gegebene Regelungsaufgabe an den Gesetzgeber einfach auf die
Sozialpartner abgewälzt wurde. Der Gesetzgeber hat es damit komplett versäumt, Vorkehrungen zu treffen, wenn die Rechte der
Minderheitsgewerkschaft nicht gewahrt bleiben. Außerdem bleibt im Dunklen, welche konkreten Rechte von der Schutzregelung überhaupt umfasst
sein sollen“, so Silberbach weiter. „Wir bleiben daher bei unserer Position, dass die Tarifautonomie weder das ursprüngliche Gesetz noch die
misslungene Korrektur gebraucht hätte. Wir setzten weiter auf freiwillige Kooperation von Gewerkschaften und werden das Gesetz, das massiv in
ein elementares Grundrecht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingreift, weiterhin mit allen Mitteln bekämpfen“, unterstrich der dbb
Bundesvorsitzende. Verfahrensbevollmächtigter des dbb vor dem Bundesverfassungsgericht sei ebenso wie im Rahmen der ersten TEG-Verfassungsklage
der renommierte Arbeitsrechtlicher Prof. Dr. Wolfgang Däubler, erklärte Silberbach.
Auch dbb
Tarifchef Volker Geyer betonte die Entschlossenheit des dbb in Sachen Eingriff in die Koalitionsfreiheit: „Wir werden diesen Kampf bis zum Ende
ausfechten. Das TEG benachteiligt bestimmte Gewerkschaften und ist deshalb ebenso verfassungswidrig wie undemokratisch. Im Bereich des
öffentlichen Dienstes ist es, egal ob alte oder neue Fassung, wegen des unklaren Betriebs-Begriffs noch weniger anwendbar als in der
Privatwirtschaft, und mit der Verlagerung der Tarifpolitik auf die Betriebsebene wird die Idee des Flächentarifs gänzlich zerschossen. Das ist
ein Irrweg, und mit unserer erneuten Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe wollen wir endlich eine Umkehr erreichen“, so Geyer.
Hintergrund
Arbeitnehmer
können in der Bundesrepublik Deutschland frei über die Gewerkschaft ihrer Wahl entscheiden. Die Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Absatz 3 des
Grundgesetzes gibt ihnen das Recht, „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“. Dieses
notstandsfeste Grundrecht ist ausdrücklich „für jedermann und für alle Berufe“ gewährleistet. Es bleibt den Beschäftigten überlassen, ob sie
sich einer berufsspezifischen, branchenübergreifenden oder weltanschaulich ausgerichteten Gewerkschaft anschließen und wen sie mit der
Vertretung ihrer Interessen in Tarifverhandlungen betrauen. Dies wollten in Anbetracht des zunehmenden Einflusses so genannter
„Spartengewerkschaften“ verschiedene Kräfte, darunter u.a. die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die SPD und der DGB
ändern und trieben die Idee einer „Zwangstarifeinheit“ voran. Am 15. Juli 2015 trat trotz massiver Proteste und Widerstände zahlreicher
Gewerkschaften und Experten das Tarifeinheitsgesetz (TEG) in Kraft. Danach soll nur noch die jeweils mitgliederstärkere Gewerkschaft im Betrieb
die Tarifhoheit haben, berufsspezifische Arbeitnehmervereinigungen, beispielsweise zahlreiche Fachgewerkschaften unter dem Dach des dbb, sind
theoretisch gehindert, eigene Tarifverträge für ihre Mitglieder abzuschließen. Zugleich werden die Mitglieder der kleineren Gewerkschaft
faktisch ihres Koalitionsrechts und ihrer Tarifautonomie beraubt.
Der dbb und viele weitere betroffene Gewerkschaften und Berufsverbände legten unverzüglich Verfassungsbeschwerde gegen das TEG ein. Entgegen
der überwiegenden Rechtsauffassung der Beschwerdeführer, Verfassungs- und Arbeitsrechtsexperten entschied der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe am 11. Juli 2017 in einem auch unter den Verfassungsrichtern hochumstrittenen Urteil, dass das TEG zwar
in die Koalitionsfreiheit eingreift und Grundrechte beeinträchtigen kann, gleichwohl aber „weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar“ ist. Der
Senat sah indes das Risiko, dass die Interessen kleinerer Berufsgruppen unter den Tisch fallen könnten, deswegen sollte der Gesetzgeber bis
Ende 2018 noch schützende Vorkehrungen schaffen. Dieser Maßgabe kam die amtierende große Koalition von Union und SPD, Nachfolgerin der
TEG-initiierenden vormaligen GroKo, nun Ende November 2018 nach: Unter dem Deckmantel des unverdächtigen Qualifizierungschancengesetzes
schleuste die Bundesregierung ihre TEG-Änderung in die parlamentarische Beratung ein und brachte die unter Experten als wenig sinnvoll
erachtete „Verbesserung“ des Minderheitenschutzes durch. In Anbetracht dieses neuen Sachstandes legt der dbb nunmehr erneut
Verfassungsbeschwerde gegen das TEG in seiner geänderten Fassung ein. Bereits am 18. Dezember 2017 hatte der dbb nach seiner Verfassungsklage
in Karlsruhe auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Klage gegen das TEG eingereicht. Aus Straßburg gibt es bereits erste
positive Signale: Die dbb Klage wurde angenommen, die deutsche Bundesregierung zu einer Stellungnahme aufgefordert, die sie dem Gerichtshof bis
Mitte Mai vorlegen muss.
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